Politik

„Zerwürfnis treibt Europa in Handlungs-Unfähigkeit“

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Kritik an „unsäglichem Postengeschacher“ – und dem Zustand der deutsch-französischen Beziehungen + Neue Verhandlungen beim Frühstück

Der Personalpoker in Brüssel nimmt kein Ende:

Nervenkrieg in Brüssel! Die 28 EU-Regierungschefs haben bereits die ganze Nacht ohne Ergebnis durchverhandelt. Jetzt wollen sie sich beim Frühstück auf einen neuen Chef der EU-Kommission verständigen. Ob das gelingt – fraglich.

Ist diese Art der Suche nach einem Nachfolger von Jean-Claude Juncker eigentlich der geeignete Weg? Im BILD-Talk „Die richtigen Fragen“ gab es an der Art der Entscheidungsfindung heftige Kritik.

The #EUCO breakfast has started. pic.twitter.com/2GsjPUaftX

— Preben Aamann (@PrebenEUspox) July 1, 2019

Giegold (Grüne): „EU ist dringend reformbedürftig“

Europapolitiker Sven Giegold von den Grünen sagte im BILD-Talk „Die richtigen Fragen“: Der Streit zwischen Berlin und Paris sei für das „unsägliche Postengeschacher“ verantwortlich. Seine Einschätzung: „Das deutsch-französischen Zerwürfnis treibt Europa in die Handlungsunfähigkeit.“

Der Ablauf der Personalentscheidung „fatal“ für das Ansehen der EU, entspreche nicht „einer handlungsfähigen Demokratie“. Giegold zu BILD: „Es zeigt sich, das die EU dringend reformbedürftig ist.“

Der Spitzenpolitiker betonte, dass die Grünen keine Präferenz für den Kommissions-Chef hätten: „Wir sind nicht festgelegt“, sagte Giegold. Der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) sei „nicht per se jemand, der diesen Posten nicht haben kann“.

Kuhle (FDP): „Parlament muss die Hosen anhaben“

Der FDP-Innenexperte Konstantin Kuhle kritisierte im BILD-Talk „Die richtigen Fragen“ ebenfalls die Entscheidungsfindung in den Hinterzimmern: „In einer Demokratie muss das Parlament die Hosen anhaben“, sagte Kuhle.

Positiv sieht der FDP-Politiker den Widerstand aus dem EU-Parlament, sich von den Mitgliedsstaaten im Rat vor vollendete Tatsachen stellen zu lassen: „Dieser Machtkampf ist gesund“, sagte Kuhle. Personell stellt er sich hinter die Kandidatin der Liberalen, die ebenfalls noch als mögliche Juncker-Nachfolgerin im Rennen ist: „Frau Vestager hat bessere Argumente als Herr Weber.“

Kommentar zum EU-Gipfel von Blome

Merkel und Macron haben sich böse verrechnet

Quelle: BILD
0:56 Min.

► Der liberale belgische Ministerpräsident Charles Michel wird EU-Außenbeauftragter und damit höchster Diplomat

► EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber wird Präsident des europäischen Parlaments – für fünf statt wie bisher üblich zweieinhalb Jahre.

Eine Einigung gebe es aber noch nicht, heißt es. Außerdem wäre in diesem Modell noch offen, wer Nachfolger von Mario Draghi als EZB-Chef wird.

Diplomaten erwarteten das Ende des verlängerten Gipfels spätestens für 12 Uhr mittags. Ob es noch zu einer Abstimmung oder einer (geheimen) Test-Abstimmung kommen würde, war zunächst unklar. Nach BILD-Informationen sträubt sich vor allem Polen weiter gegen die Personalie Timmermans.

Das passierte in der Nacht in Brüssel

Direkt nach dem Abendessen (Erbsencreme-Suppe mit gebratener Langoustine, Seezungen-Filet mit Kartoffelpüree, Dunkle Schokolade mit Eiscreme) unterbrach Ratspräsident Donald Tusk die Gespräche in der großen Runde – zugunsten von Einzelgesprächen, die bis 8 Uhr morgens dauerten.

Das sogenannte „Beichtstuhlverfahren“ wird in der EU angewandt, um ein drohendes Scheitern von Verhandlungen zu verhindern.

Problem: Es geht nicht nur um die Nachfolge von EU-Boss Juncker, sondern um vier weitere EU-Spitzenpositionen. Um eine Machtbalance, für die viele Interessen (auch regionale, auch die Geschlechter-Verteilung) berücksichtigt werden müssen.

Um im Rat eine Mehrheit zu erreichen, müssen 21 Länder zustimmen, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Zugleich muss der Vorschlag im Europaparlament mehrheitsfähig sein, weil sonst ein zäher Konflikt der Institutionen droht.

Tusk testete in den bilateralen Gesprächen der Nacht neue Namen als Kandidaten für den EU-Kommissionspräsidenten.

▶︎ Nach Informationen aus mehreren EU-Delegationen fragte er nach der Akzeptanz der bulgarischen Weltbank-Chefin Kristalina Georgieva, des irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar und des französischen EU-Brexit-Chefunterhändlers Michel Barnier.

Die Reaktionen seien eher zurückhaltend, heißt es.

Merkel unter Beschuss der EVP

Wie kam es überhaupt zu dem Streit um einen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (64, CDU) unterstützten Kompromissvorschlag?

Die Bundeskanzlerin hatte am Rande des G20-Gipfels in Japan mit Frankreich, Spanien und den Niederlanden ausgehandelt, den Niederländer Frans Timmermans zum nächsten Kommissionspräsidenten zu machen. Nach BILD-Informationen war dieser Vorschlag mit Manfred Weber sowie mit EVP-Chef Joseph Daul abgestimmt.

Weber, dessen EVP-Fraktion die Europawahl gewonnen hatte, war vor allem bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf Widerstand gestoßen. Er stellte in diesem Zusammenhang auch das gesamte Modell der Spitzenkandidaten bei der Europawahl in Frage.

  • Sondergipfel zu EU-Chefposten

    Wird trotzdem ein Deutscher Chef der EU-Kommission?

    Ein Sondergipfel soll am Sonntag in Brüssel die Juncker-Nachfolge klären. Überraschend sind jetzt zwei deutsche Minister im Gespräch.

Doppelter Aufstand gegen Osaka-Kompromiss

Doch dann regte sich massiver Widerstand, zunächst angeführt von den vier Staatschefs der sogenannten Visegrad-Gruppe: Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn gelten als klare Gegner des Sozialisten Timmermans.

Und: Noch vor Beginn des Gipfels rebellierten auch zahlreiche Vertreter der europäischen Christdemokraten. EVP-Regierungschefs, unter ihnen auch Bulgariens Ministerpräsident Bojko Borissow, warfen Merkel vor, die Interessen der EVP „missachtet“ zu haben.

Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ließ durchblicken: Nach seinem Verständnis müsse der Top-Job an den Wahlsieger gehen, also an die EVP. Brisant: Am Plan, Timmermans als Juncker-Nachfolger durchzudrücken, war nach einem Bericht von „Politico“ auch Ex-SPD-Chef und EX-Parlamentspräsident Martin Schulz beteiligt, Junckers Rivale als Spitzenkandidat bei der Europawahl 2014.

Auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban (56) warnte die europäischen Konservativen davor, die Ernennung von Timmermans zum Kommissionspräsidenten zu unterstützen. Dies wäre ein „historischer Fehler“, schrieb Orban in einem Brief an den EVP-Chef Daul. Für die EVP, die die Europawahl gewonnen habe, wäre es eine „Demütigung“, wenn „die wichtigste Position an unseren größten Rivalen geht“.

Oettinger warnt vor Scheitern

Der irische Ministerpräsident Leo Varadkar sagte, bei den Vorgesprächen der EVP habe es massiven Widerstand gegen die Berufung Timmermans gegeben.

Viele Staats- und Regierungschefs in der EVP meinten, der Anspruch auf die Kommissionspräsidentschaft dürfe nicht so schnell aufgeben werden. Zudem gebe es aus Osteuropa Stimmen, wonach die Vergabe an Timmermans die Spaltung zwischen Ost und West vertiefen könnte.

Und auch der CDU-Generalsekretär will Weber nicht so schnell aufgeben: „Er hat die größte Fraktion hinter sich, also die Menschen haben ein klares Votum abgegeben“, sagt Ziemiak in der ARD. Diesen Anspruch nicht durchzusetzen, bedeute „eine Schwächung unseres Systems“.

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger warnte am Morgen davor, dass sich die Staats- und Regierungschefs der EU nicht auf einen Nachfolger für EU-Kommissionspräsident Juncker einigen können. Es wäre ein „falsches Zeichen“, wenn keine Einigung gelinge.

Außerdem machte er deutlich, dass Manfred Weber immer noch eine Option für den Top-Job in Brüssel sei: „Er ist ein erfahrener Abgeordneter, er hat am Wahlkampf teilgenommen, er war Spitzenkandidat, und er hat die Wahl mit einer relativen Mehrheit gewonnen.“

Doch selbst eine Einigung würde noch keine endgültige Entscheidung bedeuten: Im Falle einer Einigung im EU-Rat muss noch das europäische Parlament zustimmen.

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