Gesundheit

Was ist eigentlich Erholung?

0

Ist Schlafen das Erholsamste, was der Mensch machen kann? Oder sollte man sich besser eine Woche freinehmen, um im Gebirge klettern zu gehen? Braucht man wirklich Erholung – und wenn ja, woran erkennt man das? 0

Er schaut mich an. Mein Haar ist relativ wirr, aber deswegen kann ich ja nun wirklich nicht zum Arzt gegangen sein. Ich bin ziemlich blass, aber er weiß, das bin ich eigentlich auch das ganze Jahr über. An meinen Armen und Knien sind blaue Flecke, weil ich mich ständig überall stoße, weil ich eben nicht so gut sehe, aber das sieht er alles nicht, denn ich bin ja bekleidet.

Der Arzt steht vor mir, er fragt, warum ich denn jetzt da bin.

Und ich sage, also genau deswegen, weil ich eben nicht ganz da bin. Ich weiß, das können Sie nicht sehen, denn so optisch fehlt mir nicht viel, alle Gliedmaßen scheinen vorhanden, und ich stehe ja auch, aber ich verspreche Ihnen, eigentlich, da bin ich mehr.

Der Raum ist quasi voll, wenn ich da bin.

Jetzt hallen alle Worte um mich herum.

Ich schlafe kaum noch, bin aber immer müde. Ich habe auf wirklich gar nichts Lust. Nicht mal auf Essen, ich esse immer nur so zwei, drei Bissen, und dann esse ich nichts mehr. Es ist eben, ich sage es noch mal, als sei ich nicht ganz da, nur das bisschen von mir, das da ist, das isst eben, der Rest ist weg und isst dementsprechend auch nichts.

Ich sage, ich brauche für alles sehr, sehr lange, und ich sage, es ist schlimm, denn beruflich hänge ich von meinen Ideen ab, manchmal sitze ich da im Büro und denke die ganze Zeit nur, wie schlimm es ist, dass mir keine Idee kommt. Dabei, sage ich dem Arzt, hatte ich zwar vielleicht Ideen, aber eben nur sehr kurz, und dann habe ich sie wieder vergessen. Ich vergesse nämlich alles.

Eine Wäsche, sage ich dem Arzt, habe ich letzte Woche dreimal gewaschen, weil ich sie jedes Mal in der Waschmaschine vergessen habe. Mein Nicht-ganz-da-Sein betrifft nicht nur mich, sage ich dem Arzt. Wer nicht ganz da ist, ist eine dreifache Umweltbelastung!

Der Arzt sieht irgendwie auf die Uhr. Und fragt mich dann, wann ich mich zum letzten Mal erholt habe. Und dann muss ich sehr lange nachdenken.

Was bedeutet das denn: sich erholen?

Das können Sie ja dann zu Hause nachschlagen, sagt mir der Arzt, er habe jetzt keine Zeit mehr, ich solle mir aber welche nehmen, sagt er. Und dann notiert er auf einem Zettel Dinge, die man in der Apotheke rezeptfrei bekommt, die einem helfen können sich zu erholen.

Ich stehe vor der Praxis und werde beinahe von einem Fahrrad überfahren.

Rezeptfrei, sage ich verächtlich.

Dann ist man auch nicht richtig krank.

Zeit nehmen, sage ich verächtlich.

Das ist doch was für Versager.

Wieder zu Hause befrage ich die Bücher. Der Umgang mit Büchern gilt mir zeitlebens als erholsamer als der mit Menschen. Erholung, da sind sich alle Lexika einig, geht davon aus, dass Menschen Batterien haben, die irgendwann leer sind, sich aber wieder aufladen, wenn man einfach nichts macht. Da das Nichtsmachen, so will es die Hirnforschung herausgefunden haben, einen ähnlichen Effekt auf das Gehirn habe wie das Schlafen: Das Gehirn ist dabei nicht inaktiv. Im Gegenteil, es ordnet Erlebtes, überprüft Nervenzellverbindungen auf ihre Nützlichkeit, und wenn es – wie auch immer – feststelle, dass diese Verbindungen nicht notwendig sind, dann werden sie gekappt.

Das Gehirn, stelle ich fest, ist also im Grunde ganz wie meine Mutter, wenn es nichts zu tun hat, räumt es auf.

Sozialwissenschaftlich betrachtet hat die Erholung einen eher miesen Ruf, weil der Mensch nichts gilt, wenn er nichts tut, denn wer nichts tut, der nützt gesellschaftlich nichts. Das ist falsch, brülle ich. Ich bin wirklich sehr leicht reizbar momentan. Aber man denke nur an die Wäsche, die ich dreimal gewaschen habe! Wer lange Zeit nicht nichts getan hat, ist, während er versucht produktiv zu sein, dazu verdammt, nichts zu schaffen. Der Psychologe Ernst Pöppel gibt mir da recht. In seinem Buch „Die Potenziale des Gehirns entfalten“ schreibt er: Ausgeruht erledigen Sie mit 20 Prozent ihrer Kraft 80 Prozent der Arbeit, während man müde und ausgelaugt mit 80 Prozent der Kraft nur 20 Prozent der Arbeit bewältige.

Seit den 90er-Jahren ist der Mensch, weil das Nichtstun eben so verpönt ist, dazu übergegangen „Erholung“ nicht mehr mit Nichtstun sondern mit Abwechslung zu übersetzen. Statt nichts mache man zwecks Erholung einfach nur etwas komplett anderes, als das was, man jeden Tag macht. Im Idealfall etwas, das man gerne macht.

Pöppel ist sich nach etlichen Untersuchungen und Interviews sicher, Kreativität entstehe nur im Wechsel aus Erholung und konzentrierter Anspannung. Er empfiehlt grundsätzlich, in nur kurzen Etappen zu arbeiten, statt eine Woche nichts tun, nach zwei Stunden Konzentration in ein Museum gehen. Sich angenehmen Reizen aussetzen, dann käme man von ganz alleine auf neue Ideen, die man sich dann mittels Telefon auf den heimischen Anrufbeantworter sprechen könne.

Ich bin ein wenig ratlos, stelle mich mit einer halben Anwesenheit vor das Bett. Und denke, na gut, dann leg ich mich heute mal den halben Tag da rein, hoffe, dass mein Gehirn die Synapsen kappt, die dafür verantwortlich sind, dass ich mich nur halb fühle. Und gehe dann in ein Museum, um mir von dort neue Ideen auf den Anrufbeantworter zu sprechen, die mir das Gefühl geben, als ganzer Mensch am Leben teilzuhaben.

Von wegen “German Angst”: Deutsche gar nicht so ängstlich

Previous article

Die Größe der Stadt bestimmt, wie heftig die Grippewelle wird

Next article

You may also like

Comments

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert