Politik

„Wir brauchen 120 000neue Sozialwohnungen“

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Der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig Burkhard Jung (SPD) ist seit Anfang Juni Präsident des Deutschen Städtetages – als erster Bürgermeister einer ostdeutschen Stadt. Er ist 2006 das Oberhaupt der größten sächsischen Stadt und macht sich dafür stark, mehr Gerechtigkeit im Osten zu schaffen.

Im BILD-Interview spricht er über seine Aufgaben im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen in den neuen Bundesländern, der Digitalisierung, dem Umweltschutz, Mobilität und Wohnungsbau in den Städten.

BILD: Sie sind als erster ostdeutscher Oberbürgermeister an die Spitze des Städtetags gewählt worden. Geht damit eine besondere Verantwortung einher und sind Ihnen bestimmte Themen vor diesem Hintergrund besonders wichtig?

Burkhard Jung: „Der Deutsche Städtetag ist eine gewichtige Stimme auf Bundesebene. Wir vertreten die Belange der großen und der meisten anderen Städte in Ost und West, in Nord und Süd. Ein wichtiges Thema, und das nicht nur in Ostdeutschland, sind gleichwertige Lebensverhältnisse. Wir wollen gleiche Chancen für alle Menschen – egal in welcher Region jemand lebt.“

Immer mehr Städte rufen den Klimanotstand aus. Wie viele Städte sind es aktuell? Und was hat das eigentlich zu bedeuten? Ändert ein Klimanotstand irgendetwas an dem Alltag der Bürgerinnen und Bürger in einer Stadt? Welche konkreten Maßnahmen würden Sie anregen?

Jung: „Mehrere deutsche Städte haben den Klimanotstand erklärt, weitere werden folgen. Konkret kümmern sich die Städte schon lange um den Klimaschutz. Sie setzen auf erneuerbare Energien, machen ihre Gebäude energieeffizient oder verändern immer mehr ihre Verkehrskonzepte. Und die Städte wollen noch mehr tun. Ob man den Begriff Klimanotstand verwendet, ist dabei zweitrangig. Das muss jede Stadt selbst entscheiden. Aber wir müssen in Deutschland noch konsequenter und schneller handeln. Deshalb muss das von der Bundesregierung angekündigte Klimaschutzgesetz wirkungsvolle Maßnahmen enthalten. Außerdem unterstützen die Städte die Idee, den Ausstoß von Kohlendioxid mit einem Preis zu versehen. Das kann helfen, die Klimaziele schneller zu erreichen.“

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Die Wohnungsnot und der damit einhergehende Mietwahnsinn ist in vielen deutschen Städten ein großes Problem. Das gefährdet auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und entfacht soziale Konflikte. Was ist Ihre Antwort? Und inwieweit muss es auch kurzfristige Maßnahmen geben, weil langfristige Maßnahmen Jahre bis Jahrzehnte brauchen, um zu greifen?

Jung: „Wir können nicht einfach Schnipp machen, und die Wohnungsfrage ist gelöst. Nur mit einem Mix von Instrumenten wird sich etwas bewegen. Es muss vor allem gelingen, mehr Wohnungen zu bauen. Bund, Länder und Kommunen, Wohnungs-, Immobilien- und Bauwirtschaft, Stadtplanung und Architektur müssen dafür zusammenarbeiten. Das geht schon beim Bauland los, das oftmals Mangelware in den Städten ist. Deshalb sollte zum Beispiel das Vorkaufsrecht der Kommunen gestärkt werden. Außerdem muss der soziale Wohnungsbau stark anziehen. Wir brauchen jedes Jahr 80 000 bis 120 000 neue Sozialwohnungen, gebaut wird bisher pro Jahr nur rund die Hälfte.“

Über die Verkehrswende wird viel gesprochen, aber wirklich viel passiert nicht. Wie kann man den Nahverkehr noch attraktiver machen? Wieso gibt es in Deutschland beispielsweise nicht ein Modell wie in Wien, wo die Jahreskarte täglich einen Euro kostet?

Jung: „Rund elf Milliarden Fahrgäste waren im vergangenen Jahr im öffentlichen Nahverkehr in Deutschland unterwegs, Tendenz steigend. Die Bereitschaft der Menschen auf Bus und Bahn umzusteigen ist also da. Die Verkehrssysteme sind allerdings vielerorts chronisch unterfinanziert, der Verschleiß hoch. Deswegen brauchen wir ein Gesamtkonzept von Bund und Ländern für nachhaltige Mobilität in den Städten. Tunnel- und Gleisanlagen müssen saniert, Busse und Bahnen neu beschafft und Haltestellen umgebaut werden. Wir wollen eine gute Infrastruktur für Radfahrer schaffen, E-Mobilität ausbauen, Verkehrssysteme digitalisieren. Das ist Grundlage für die Verkehrswende, die wir brauchen. Nötig ist eine Investitionsoffensive von Bund und Ländern mit zusätzlichen Mitteln von 20 Milliarden Euro für mindestens zehn Jahre, also 2 Milliarden jährlich. Modelle wie ein Jahresticket zum 1-Euro-Preis pro Tag können nicht allein durch die Städte finanziert werden, da dies weitere erhebliche Zuschüsse für die Nahverkehrsunternehmen nötig machen würde. Und Hilfe des Bundes gibt es dafür bisher nur in fünf Modellkommunen.“

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Wie stehen Sie zu Fahrverboten in Städten? Eine richtige und notwendige Entscheidung oder vielmehr Aktionismus? Wissenschaftler bewerten die Maßnahme als kritisch, weil sie letztlich kaum etwas an der Luftverschmutzung ändern …

Jung: „In 57 deutschen Städten sind die Stickoxid-Werte nach wie vor zu hoch. Es werden in allen Städten Maßnahmen zur Luftreinhaltung umgesetzt, zum Beispiel werden städtische Busflotten auf nachhaltige Antriebe umgerüstet. Fahrverbote können nur das letzte Mittel sein und hoffentlich meistens vermieden werden. Allerdings haben Gerichte für einzelne Städte bereits Fahrverbote angeordnet. Erinnern will ich daran, dass vor allem die Automobil-Hersteller für die zu hohen Emissionen verantwortlich sind. Sie müssen das Nachrüsten von Autos organisieren und auch bezahlen.“

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Gentrifizierung ist in vielen deutschen Städten ein immer weiter fortschreitender Prozess. Oftmals auch mit Auswirkungen auf die Bildung und die Bildungseinrichtungen in den jeweiligen Bezirken. Was wollen Sie dagegen tun?

Jung: „Gentrifizierung ist in Deutschland kein flächendeckendes Phänomen. Besonders betroffen sind attraktive Innenstadtlagen oder Szeneviertel. Die Städte finden es wichtig Quartiere aufzuwerten, Immobilien zu sanieren und zum Beispiel ehemalige Industriestandorte zu entwickeln. Überzogenen Anstieg von Mieten oder Luxusmodernisierungen, die einkommensschwächere Haushalte aus Wohnvierteln verdrängen, versuchen wir zu begrenzen, etwa durch unser Engagement über kommunale Wohnungsunternehmen. Doch die kommunalen Handlungsmöglichkeiten sind hier nicht sehr umfangreich.“

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In vielen Städten dieser Welt gibt es Free-Wifi – überall in der Stadt, nicht nur in Cafés oder Restaurants, die WLAN anbieten. Wieso hängt Deutschland hier hinterher und wird sich das bald ändern?

Jung: „Erst 2017 wurde die so genannte Störerhaftung in Deutschland abgeschafft. Bis dahin war möglich, dass der Betreiber eines WLAN-Netzes für zum Beispiel illegale Downloads eines Nutzers haften musste. Das war ein Problem für die Städte. Mittlerweile aber gibt es in vielen Städten kostenloses Wifi, etwa in Rathäusern, Bibliotheken, Museen, Parks oder auf städtischen Plätzen. Mit Unterstützung des EU-Förderprogramms WiFi4EU werden auch in immer mehr kleineren Städten und in der Fläche stabiles, schnelles und kostenfreies Internet zur Verfügung gestellt. Damit wird ein Grundbedürfnis der Bevölkerung erfüllt.“

Die Verwaltung ist in vielen deutschen Städten überfordert – und alles andere als digitalisiert. In Berlin wartet man zuweilen Monate auf einen Termin beim Bürgeramt. Wie wollen Sie diese Zustände ändern und wie digital soll die Verwaltung werden?

Jung: „Bei der Digitalisierung geht es nicht nur darum, dass städtische Informationen oder Meldeverfahren online verfügbar sind. Es geht auch um die Qualität unserer städtischen Entscheidungsprozesse. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten Information und Transparenz und wollen an Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Und sie erwarten zu Recht, dass unsere Verwaltungen nutzerfreundlich und unkompliziert arbeiten, unabhängig von Öffnungszeiten und Fahrtwegen. Die Städte haben sich hier auf den Weg gemacht und bieten schon einige Angebote online an. Vor allem Vorgaben im Bundesrecht schieben vielen weiteren Ideen aber bislang einen Riegel vor, etwa weil Unterschriften verlangt werden. Uns fehlt der Rechtsrahmen für eine verbindliche und sichere E-Signatur. Darüber hinaus braucht Digitalisierung zukunftsfeste Telekommunikationsnetze. Deshalb muss der Bund sein Ziel erreichen, bis zum Jahr 2025 flächendeckend Gigabit-Netze zu schaffen.“

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