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„Ich habe Dinge gesehen, die ich vergessen möchte“

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Jerusalem – „Ich habe Dinge gesehen, die ich gerne vergessen möchte“, erzählt die Auschwitz-Überlebende Bela Eizenman (92) am Mittwochabend bei der Holocaustgedenkfeier in Jerusalem. Totenstille. Nur ein Schluchzen ist ab und an zu hören.

Eine Frau drückt die Schulter ihrer Sitznachbarin, die Menschen im Raum stecken sich Taschentücher zu. Hinterher teilen die Fremden eine Umarmung. Der Schmerz bleibt. Es ist ein schwerer Tag für Israel: Die rund 2600 Gäste, darunter Premierminister Benjamin Netanjahu und Staatspräsident Reuven Rivlin, sind in der Gedenkstätte Yad Vashem zusammen gekommen, um den Opfern des Holocausts zu gedenken.

Holocaust-Gedenktag

In Jerusalem und Israel halten Menschen inne

Quelle: Reuters
0:55 Min.

„Wir sind dankbar, dass Yad Vashem unsere Spende angenommen hat. Und wir möchten uns in Zukunft vor allem damit beschäftigten, wie man die Erinnerungskultur lebendig halten kann“, erklärte Daimler-Cheflobbyist Eckart von Klaeden.

Dass die deutschen Wirtschaftsvertreter 74 Jahre nach dem Holocaust an der Gedenkzeremonie in Jerusalem teilnehmen, birgt Brisanz: Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten Tausende jüdischer und sowjetischer Zwangsarbeiter in den Volkswagen-Fabriken unter unmenschlichen Bedingungen. Die Reichsbahn, der Vorgänger der Deutschen Bahn, deportierte Juden quer über den europäischen Kontinent in die deutschen Vernichtungslager.

Soldaten gedenken mit Überlebenden

Während sechs Überlebende über ihre grausame Vergangenheit berichten, zünden sie jeweils eine Fackel an – stellvertretend für die sechs Millionen ermordeten Juden. Neben ihnen stehen junge israelische Soldaten. Dieser Moment zeigt eindrucksvoll die Vergangenheit und die Zukunft des Landes. Vielleicht hilft es, zu verstehen, warum es dem jüdischen Staat so wichtig ist, sich zu schützen.

Genau das betont Regierungschef Netanjahu in seiner Ansprache: „Wir haben die Fähigkeit, die Pflicht und die Entschlossenheit, uns zu verteidigen.“ Die anwesenden Überlebenden empfinden das ähnlich, erzählen mit einem Lächeln von ihren großen Familien, die sie in dem jüdischen Staat gegründet haben und wie dankbar sie sind, ein Zuhause zu haben – auch wenn zwei von ihnen eine Ehefrau und einen Sohn bei Terroranschlägen im Land verloren haben.

Unter den deutschen Vertretern ist auch Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer von Borussia Dortmund. Er weiß um die antisemitischen und rassistischen Anfeindungen, zu denen es in deutschen Fußball-Stadien immer wieder kommt. „Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir ein Zeichen setzen, damit genau diese Fans sehen, dass wir ihren Standpunkt nicht teilen“, sagte Watzke zu BILD.

Wie es für ihn ist, an dieser Gedenkzeremonie teilzunehmen? „Wir leben ja nicht in der Vergangenheit, sondern im Heute. Und heute müssen wir uns auf die Zukunft konzentrieren, damit sich so etwas nicht wiederholt. Wir stehen vor großen Herausforderungen, deshalb müssen wir diesem Thema viel Beachtung schenken. Und das soll auch in Israel ankommen, dass wir uns unserer Verantwortung bewusst sind uns uns mit diesem Thema seriös auseinandersetzen.“ Watzke mahnt: „Antisemitismus findet man nicht nur unter Rechtsradikalen …“

Auch die in Deutschland geborene Holocaust-Überlebende Fanny Ben-Ami beobachtet den wachsenden Antisemitismus in Deutschland und Europa und zeigt sich im Gespräch mit BILD enttäuscht: „Dann haben wir scheinbar leider nicht genug getan. Aber wir dürfen nicht aufgeben“, gibt sich die 89-Jährige kämpferisch. Umso mehr freut sie sich, dass die Vertreter deutscher Firmen für den Gedenktag nach Israel gekommen sind und der Zeremonie beiwohnen.

Sie hat keinen Groll: „Es gibt doch so etwas wie deutsche und französische Firmen gar nicht, es ist doch alles gemischt. Und die Vergangenheit dieser Firmen ist heute auch nicht mehr von Bedeutung, Hauptsache wir kämpfen jetzt gemeinsam gegen Antisemitismus an.“

Ordensschwester Marie (61) aus Darmstadt ist extra angereist, um diesen Tag in Jerusalem zu verbringen: „Die Schuld, die das deutsche Volk auf sich geladen hat, wiegt sehr schwer und es ist so wichtig, dass wir Reue zeigen.“ Bei der Verlesung der Namen der Ermordeten trifft die Deutsche auf die Auschwitz-Überlebende Sarah Bela Avner (94). Die beiden tauschen einen Blick – und umarmen sich. „Diese Liebe und Vergebung zu spüren, war unbeschreiblich“, so die Nonne.

Als am Donnerstagmorgen die Sirene ertönt, die für eine Minute im gesamten Land zu hören ist, senken die Anwesenden die Köpfe und denken an die Ermordeten. Es ist wieder still. Leise wischt sich eine Überlebende die Tränen von der Wange, während sie die Hand ihrer Enkelin drückt.

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