Deutschland

Wie die Stasi die westdeutsche Neonazi-Szene unterwanderte

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Kein Witz: Die DDR-Geheimpolizei hatte Spitzel im rechtsextremen Milieu der BRD. Um den Klassenfeind zu destabilisieren? Wohl kaum. Dafür hatte man andere Leute. Der wahre Grund war anscheinend viel banaler.

Der 1991 verstorbene Neonazi Michael Kühnen (2.v.l.) bei einem Treffen der “Aktionsfront Nationaler Sozialisten” 1978

Herbst 1989: Die greisen Machthaber in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) haben Angst. Vor der eigenen Bevölkerung – und vor Rechtsextremisten aus dem Westen. Im eigenen Land gehen seit Anfang September jeden Montag viele tausend Menschen auf die Straße. Sie fordern Reisefreiheit, skandieren “Wir sind das Volk” und “Keine Gewalt!”.

In dieser aufgewühlten Stimmung erreichen die Abteilung XXII des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Besorgnis erregende Nachrichten über eine “Aktionsgruppe Freies Demokratisches Deutschland”. Leute aus dem Umfeld der West-Berliner “Republikaner” planen angeblich Brandanschläge auf die innerstädtischen Grenzübergänge in der Chausseestraße und Heinrich-Heine-Straße. Sie sollen sich auch um Presslufthämmer bemühen, um damit die Mauer am Brandenburger Tor zu beschädigen.

Oktober 1989: Montagsdemonstration auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig

Eine Buch-Premiere im Spionagemuseum

Die schlimmsten Befürchtungen des MfS, besser bekannt als “Stasi”, scheinen wahr zu werden. Sie passen perfekt zur langjährigen DDR-Propaganda über die vermeintlich faschistische Bundesrepublik. Deren rechtsextremistische Szene hat die Stasi schon seit Mitte der 1970er Jahre im Visier. In Ost-Berlin sorgt man sich nämlich, westdeutsche Neonazis könnten Einfluss auf die DDR nehmen, sagt Geheimdienst-Experte Andreas Förster. Der Journalist hat gerade in Berlin sein neues Buch vorgestellt: “Zielobjekt Rechts”. Präsentiert wurde es – mit einem ironischen Augenzwinkern – im Deutschen Spionagemuseum.

Mit Presslufthämmern die Mauer am Brandenburger Tor attackieren? Die Stasi glaubte anscheinend daran (Archivbild 1962)

Förster recherchiert seit Jahrzehnten zu Geheimdiensten aus Ost und West. Auch über die Stasi und ihre Liaison mit westdeutschen Neonazis schreibt er schon länger. Aber noch nie ist er so tief in diese Materie eingetaucht wie dieses Mal. Seine wichtigsten Quellen sind dabei, wenig verwunderlich, die Stasi-Archive. Beim Akten-Studium gewinnt Förster den Eindruck, “dass es die Stasi vermeidet, aktiv Leute anzuwerben”.

Das Feindbild hat einen Namen: DDR

Mit dem linksextremistischen Milieu gibt es offenbar weniger Berührungsängste. “Wir sind doch alle für Frieden und Gerechtigkeit” – mit solchen Parolen versucht das MfS, Kontakte mit Gleichgesinnten auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenzen zu knüpfen. Bei Rechtsextremisten ist man vorsichtiger – wegen ihrer antikommunistischen Einstellung und des “Feindbildes DDR”. Trotzdem kommt die Stasi den Neonazis recht nahe – mit Hilfe sogenannter “Selbstanbieter”.

Menschen, die oft finanziell klamm sind und sich als Spitzel des Inlandsgeheimdienstes ein kleines Zubrot verdienen wollen. “Das ist heute so und das war damals auch schon so”, kommentiert Förster ein zeitloses Phänomen aus der Geheimdienst-Welt. Richtig wohl fühlt sich die Stasi allerdings nicht dabei. Sie fasst diese Leute mit “spitzen Fingern” an. Ihr Wissen schöpft sie gerne ab, aber vor allem eine Sorge bleibt: von einem feindlichen Geheimdienst gelinkt zu werden und dann in einer westdeutschen Zeitung lesen zu müssen: “Die Stasi paktiert mit Neonazis!”

Neonazi Michael Kühnen ein Spitzel?

Einen direkten Draht zu Nazi-Größen im anderen Teil Deutschlands kann die Stasi aber nicht herstellen. Dennoch erfährt sie anscheinend eine ganze Menge über das rechtsextremistische Milieu. Prominentester Fall ist Michael Kühnen. In den 1980er Jahren ist er die prägende Figur innerhalb der westdeutschen Nazi-Szene mit Kontakten ins Ausland. Kaum ist die Mauer gefallen, legt er ein “Aufbauprogramm Ost” vor. Solche Meldungen registriert die Stasi noch in den letzten Monaten ihrer Existenz.

1978: Michael Kühnens “Aktionsfront Nationaler Sozialisten” bei einer öffentlichen Holocaust-Leugnung in Hamburg

Kühnen sei es immer darum gegangen, eine “ideologisch basierte” Organisation zu schaffen, “die politische Ziele durchsetzt”, sagt Buchautor Förster. Wegen Volksverhetzung und neofaschistischer Propaganda sitzt er vier Jahre hinter Gittern. Als er das Gefängnis in Celle (Niedersachsen) 1982  verlassen darf, wartet ein Taxi auf den Neonazi, um ihn nach Hamburg zu chauffieren. Glaubt man der Stasi, steigt Kühnen in ein getarntes Auto des Verfassungsschutzes. Ob das stimmt? Försters Nachfragen beim Inlandsgeheimdienst bleiben ergebnislos.

Die übertriebene Angst vor Anschlägen in der DDR

Die Stasi hält Kühnen bis zuletzt für einen Spitzel des Verfassungsschutzes. Sie befürchtet, er könnte Einfluss auf die wachsende Neonazi-Szene in der DDR nehmen. Mit dem Mauerfall 1989 und der deutschen Wiedervereinigung ein Jahr später endet die Stasi-Unterwanderung des rechtsextremistischen Milieus zwangsläufig. Die DDR scheitert letztlich an sich selbst. Ihre Angst vor faschistischen Anschlägen aus dem Westen war wohl übertrieben.

Meterlange Regale mit Stasi-Akten der Abteilung für Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland (Symbolbild)

Manche Stasi-Erkenntnisse aus längst vergangenen Zeiten sind aus anderen Gründen beklemmend. In einem Bericht aus dem Jahr 1988 ist von 17 Verfassungsschutz-Spitzeln (V-Leute) in rechtsextremistischen Organisationen die Rede, dazu werden 22 Verdachtsfälle genannt. Welche fatale Rolle solche V-Leute im vereinten Deutschland seit 1990 spielen, zeigte sich beim “Nationalsozialistischen Untergrund” (NSU). Die rechtsextremistische Terrorgruppe ermordete zehn Menschen und verletzte mehr als doppelt so viele bei Bombenanschlägen.

Martina Renner: Verfassungsschutz-Akten öffnen! 

Keimzelle des NSU war der maßgeblich von Verfassungsschutz-Spitzeln aufgebaute Thüringer Heimatschutz (THS). Wie tief der Geheimdienst in dieses Netzwerk verstrickt ist, beschäftigt seit Jahren parlamentarische Untersuchungsausschüsse und investigativ arbeitende Journalisten wie Andreas Förster. Sie alle machen immer wieder die gleiche frustrierende Erfahrung: Akten verschwinden, sind geschwärzt oder bleiben unter Verschluss. Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Linke) erlebt das seit vielen Jahren.

Gerne wüsste sie, was der Verfassungsschutz über den Anschlag auf das Münchener Oktoberfest 1980 mit 13 Toten und über 200 Verletzten weiß. Zweifel an der staatlichen These eines rechtsextremistischen Einzeltäters sind nie verstummt. Deshalb fordert Martina Renner, endlich Akten zu öffnen, die einen Bezug zu rechtsterroristischen Strukturen seit den 1970er Jahren haben. So hofft sie, ungeklärte Fälle “historisch belegen, politisch aufklären und Konsequenzen ziehen zu können”. Renner nennt es ein “Unding”, dass 40 Jahre zurückliegende Vorfälle, “immer noch durch die Behörden gesperrt sind”.

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