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Stephen Hawkings Tochter Lucy spricht im Interview über ihren Vater

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Wie lebt es sich als Tochter des weltberühmten Physik-Genies Stephen Hawking? Im stern erzählt Lucy Hawking über ihre Kindheit, das Weltbild ihres Vaters und seinen großen Sinn für Humor.

Lucy Hawking, 47, Tochter des Physikers Stephen Hawking, fotografiert im Büro der Agentur United Agents in Soho, London

Frau Hawking, am 14. März verstarb Ihr Vater Stephen, nun erscheint sein letztes Buch: “Kurze Antworten auf große Fragen”. Es liest sich wie seine Hinterlassenschaft an die Menschheit, fast wie ein Testament.

Das Buch berührt tatsächlich alle Bereiche, die wir früher auch zu Hause besprochen haben. Und es berührt alle Bereiche, in denen mein Vater in den letzten 30 Jahren geforscht hat. Es wirkt auf mich enorm familiär und vertraut. Es jetzt noch mal zu lesen war für mich wie eine Fortsetzung unserer Gespräche.

Es ist ein wissenschaftlich-philosophischer Parforce-Ritt. Er schreibt über Zeitreisen, die Bedrohung unseres Planeten, künstliche Intelligenz – und nicht zuletzt über die Nicht-Existenz von Gott. Jedes Kapitel endet mit einem fast zuversichtlichen Ausblick. War Ihr Vater ein optimistischer Mensch?

Und wie. Er war durch und durch optimistisch und glaubte aus tiefer Überzeugung an den Menschen und an den Einfallsreichtum der Menschheit. Seine große Hoffnung lag in der Jugend, die, davon war er überzeugt, viel weiter kommen wird als wir heutzutage und den nächsten Schritt gehen wird. Unsere Kinder, das war seine Meinung, werden die Lösungen für die Dinge finden, an denen wir heute noch scheitern. Das setzt allerdings Bildung voraus. Bildung war ihm das Wichtigste.

Stephen und Lucy Hawking bei einem gemeinsamen Vortrag im April 2008 an der George Washington University anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Nasa. Thema: “Warum wir ins All reisen sollten”.

Wir kennen ihn vor allem als Wissenschaftler. Was für ein Mensch war Stephen Hawking?

Ich habe ihn immer als Showman in Erinnerung. Er liebte das Entertainment und auch das Showbusiness. Er war außerdem ein sehr bescheidener Mann. Manchmal wunderte er sich, wenn seine Aussagen auf den Titelseiten der Zeitungen landeten, denn in erster Linie verstand er sich ja als Physiker aus Cambridge.

Eine der einflussreichsten und populärsten Geistesgrößen des Jahrhunderts wunderte sich über seine Wirkung?

Oh ja, er wäre überwältigt gewesen über die weltweite Anteilnahme an seinem Tod. Vielleicht hätte er sich darüber amüsiert. Denn er hatte einen großen Sinn für Humor. Er hörte sich zuweilen unsere Diskussionen an und fasste sie mit drei, vier Worten zusammen. Sehr trocken, sehr britisch, aber auch herausfordernd. Wir brachen regelmäßig vor Lachen zusammen.

Ein Beispiel bitte.

Es passierte immer wieder, dass es ihm schlecht und sogar sehr schlecht ging. Dann kam mein Bruder aus Amerika geflogen, aber er saß schon wieder am Tisch, aß pochierte Eier, sah meinen Bruder an und fragte, als sei nichts gewesen: “Was machst du denn hier? Wolltest du nicht in den Urlaub? Mir geht’s gut. Eigentlich kannst du wieder fliegen.” Mir fallen viele solcher Episoden ein.

Nur zu, erzählen Sie.

Stephen Hawking: “Kurze Antworten auf große Fragen”, Klett-Cotta-Verlag, 240 Seiten, 20 Euro

Vor Jahren begleitete ich meinen Vater zu einem Vortrag nach Moskau, das war noch zu Zeiten des Kalten Krieges, 1984. Ich war damals 13 oder 14. Und Vater redete vor der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Er benutzte gerne und oft Metaphern und brachte damit die Simultanübersetzerin komplett zur Verzweiflung. Sie kannte diese Art von Sprache einfach nicht, sie schüttelte immer wieder den Kopf. Als er sagte, man müsse sich das Universum vorstellen wie eine gigantische Klempnerarbeit, riss sie sich die Hörer vom Kopf und stürmte raus. Es war zum Schreien komisch.

Empfand er Lust an der politischen Provokation? Er knöpfte sich gern Donald Trump vor.

Trump, klar. Und den Brexit auch. Als ihm unsere Premierministerin Theresa May vor zwei Jahren den Preis für sein Lebenswerk übergab, sagte er: “Vielen Dank, ich habe mein Leben lang an sehr komplexen Dingen gearbeitet. Aber bitte fragen Sie mich nicht, ob ich Ihnen beim Brexit helfen kann. Das würde selbst mich überfordern.”

Hat ihn der Brexit überrascht?

Ja. Wir standen alle unter Schock, als das passierte. Mein Vater war ein Kosmopolit. Er hatte dafür kein Verständnis.

Lassen Sie uns über seine Verdienste sprechen. Was zählt für Sie am meisten?

Das passt nicht in einen Satz, vielleicht auch nicht in eine Antwort. Er machte ja nicht nur diese bahnbrechenden Entdeckungen über Zeit und Raum, sondern schaffte es, die einem breiten Publikum durchaus unterhaltsam zu erklären. Und er war einer der Ersten, der mit schwerer Behinderung weiterarbeitete – und nicht nur das: Er ließ sich von seiner Behinderung nicht behindern. Bis zu seinem Tod war er fest angestellt an der Universität. Das wäre schon für eine gesunde Person außergewöhnlich gewesen, für ihn aber noch mehr.

Lucy Hawking studierte Französisch und Russisch in Oxford und Journalistik in London

Sie arbeiten als Journalistin und Schriftstellerin und haben Kinderbücher gemeinsam mit Ihrem Vater verfasst. Wie lief die Zusammenarbeit?

Das war am Anfang fast einschüchternd für mich, denn ich betrat ja seine Welt. Ich hatte die Personen und die Handlung im Kopf. Und er die Expertise. Es ging darum, eine der schwierigsten wissenschaftlichen Bereiche in die am leichtesten konsumierbare Form zu bringen, also für Kinder verständlich zu machen. Das war für uns beide neu. Mein Vater hatte nie Fiktion geschrieben und Dialoge und Charaktere entwickelt. Er war davon fasziniert, und irgendwann hatte er auch gute Einfälle für die Handlung. Einmal schrieb er mir: “Ich weiß jetzt, wie wir den Jungen aus dem schwarzen Loch befreien können …” Am Ende war er glücklich, dass ich ihn mit Dingen in Berührung brachte, die er nicht kannte. Und ich glaube, dass er es umgekehrt auch sehr genoss, dass ich mich wegen der Bücher eben auch mit Physik beschäftigen musste.

Haben Sie sich gestritten?

Gestritten nicht, aber kontrovers diskutiert sehr wohl. Zum Beispiel fragte ich: “Können die Kids einen Außerirdischen treffen?” Und er antwortete: “Definitiv nicht. Die Menschen haben noch keinen getroffen. Punkt und aus.” Die Grundregel war, dass wir die Gesetze der Physik nicht brechen. Vater war sehr gespannt. Er sorgte sich, dass Kinder ihn nicht mögen könnten. Aber ich wusste, dass die Sorge völlig unbegründet war.

Stimmt es, dass Sie auf einer Geburtstagsparty für Ihren Sohn auf die Idee mit den Kinderbüchern kamen?

Ja, die Kids waren ganz aufgeregt, meinen Vater zu treffen. Und als er dann kam und sich alle um ihn scharten, fragte ihn ein Junge: “Was passiert, wenn ich in ein schwarzes Loch falle?” Er sagte: “Dann würdest du wie Spaghetti aussehen.” Da dachte ich: Warum aus solchen Dingen kein Buch machen? Das war die Inspiration.

Die private und menschliche Seite wurde einem breiten Publikum durch den Film “Die Entdeckung der Unendlichkeit” nahegebracht. Wie haben Sie den Alltag im Hause Hawking als Kind erlebt?

Aufregend war’s. Bei uns ging es zu wie im Taubenschlag. Wir hatten unglaublich viele interessante Gäste. Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller. Ständig wurde Essen auf den Tisch gewuchtet. Ständig wurde diskutiert. Wir sprachen wirklich über alles: unsere Sorgen, Hausaufgaben, Politik, existenzielle Fragen, Kunst und Musik und natürlich Wissenschaft. Es war intellektuell funkelnd. Völlig irre.

Sie sagten, dass Ihre Kindheit und Jugend sich zwischen den Polen “extrem gewöhnlich” und “extrem außergewöhnlich” bewegte.

Wir wuchsen tatsächlich ziemlich normal auf, fuhren mit dem Fahrrad zur Schule. Mein Vater war ja damals noch nicht weltberühmt. Er war bekannt in wissenschaftlichen Kreisen, aber das waren andere in Cambridge auch. Was uns elementar von anderen Familien unterschied – gerade in den 60er, 70er und auch noch den 80er Jahren –, war, eine Person im Rollstuhl zu sehen, umgeben von Ehefrau und drei Kindern. Die Leute starrten uns an, sie starrten vor allem meinen Vater an. Das hat mich sehr gestört, ich hätte ihn gerne vor diesen Blicken geschützt. Und Cambridge, das kam noch dazu, ist nicht eben behindertenfreundlich.

Kopfsteinpflaster, mittelalterliche Gassen …

Eben. Wenn Sie noch nie jemanden im Rollstuhl geschoben haben, ahnen Sie nicht ansatzweise, wie viele Hindernisse und Hürden es gibt. Sie werden sich erst dann bewusst über Treppen, steile Stiegen, Hürden. Wir wussten nie, wie lange wir brauchen würden von A nach B. Und ich stelle heute noch fest, dass ich die Dimension von Fahrstühlen begutachte und manchmal vor mich hin murmele: Das ist ein guter Lift, oder das ist ein mieser Lift. Weil ich sie mit den Augen von Rollstuhlfahrern betrachte.

Ihr Vater hat immens dazu beigetragen, die Wahrnehmung von Behinderten zu verändern.

Es ist inzwischen viel besser geworden, und er war ein Wegbereiter. Er setzte sich für behindertengerechte Architektur ein, Bürgersteige, Fahrstühle. Vor allem aber dafür, dass behinderte Menschen heute erfolgreich im Beruf sein und ein erfülltes Leben führen können. Er war ein Vorbild. Ich habe mal eine Dokumentation für BBC Radio 4 gemacht. Es ging um synthetische Sprache. Dafür interviewte ich eine Ärztin in London, die mit Kindern arbeitete. Sie sagte: “Die meisten Kinder möchten eine Stimme wie die Ihres Vater haben, damit die Leute denken, sie seien auch so klug.” Wunderbar.

Er hatte durch den Computer plötzlich einen amerikanischen Akzent. Das muss für Sie und Ihre Familie gewöhnungsbedürftig gewesen sein.

War es am Anfang. Oops, sagten wir, du bist ja jetzt Amerikaner. Irgendwann fragte er, ob wir mal andere Stimmen ausprobieren wollten. Also machten wir aus ihm einen Iren oder eine Frau, wir machten ihn alt und jung. Das war lustig. Aber dann sagte er: “Nein, ich behalte diese Stimme. Sie gehört jetzt zu mir.”

Sie sprachen einmal davon, einen immer wiederkehrenden Traum zu haben. In diesem Traum konnte Ihr Vater wieder gehen.

Das stimmt. Es gibt diese Sequenz im Film, in der er seine Beine benutzen kann. Ich war bezaubert davon und fragte die Filmemacher, ob sie noch mehr Szenen davon haben. Ich hätte das stundenlang sehen können. Es war eine exakte Reflexion meines Traumes.

Haben Sie mit ihm über den Traum sprechen können?

Nein, nie. Ich dachte, es würde ihn traurig machen.

Mochte Ihr Vater den Film?

Ja, er weinte fast die ganze Zeit. Sagte er jedenfalls. Er sagte aber auch: Ein bisschen mehr Physik hätte dem Film gutgetan.

Im Film wird auch eine Phase thematisiert, in der die familiären Bindungen litten. Ihr Vater verliebte sich in seine Pflegerin und heiratete sie.

Das ist richtig. Wir hatten danach ein sehr anderes Leben. Die Arbeit an den Büchern brachte uns schließlich wieder zusammen. Sie war die Brücke. In den drei Monaten vor seinem Tod zog ich zu ihm und pflegte ihn.

Er ist nun seit sieben Monaten tot. Was vermissen Sie am meisten?

Ihn. In den ersten Wochen und Monaten nach seinem Tod hatte ich das Gefühl, dass er immer noch da ist. Manchmal ging ich an einem Geschäft vorbei und dachte an Weihnachtsgeschenke, ehe mir auffiel … geht ja nicht mehr. Und vergangene Woche war ich in seinem Haus, und es klingt jetzt vielleicht komisch für Sie: Aber es war so furchtbar leer, dieses früher brummende Zentrum der Aktivität. Immer voll. Immer Treiben. Und plötzlich war da niemand mehr. Ich dachte: Ja, das war es nun, es ist wirklich vorbei.

Er negierte die Existenz Gottes, weil es – wie er schrieb – vor dem Urknall keine Zeit gab und logischerweise deshalb auch keine Zeit für einen Schöpfer. Ihr Vater konnte also nicht an ein Leben nach dem Tod glauben?

Aus wissenschaftlicher Perspektive konnte er das nicht. Und ich stimme mit seiner Sichtweise überein. Aber Leben nach dem Tod? Mein Vater sagte, dass das Leben nach dem Tod darin besteht, die Gene an seine Kinder weitergegeben zu haben. Und seine Arbeit bleibt unsterblich. Er lebt darin weiter. Ich habe mir gerade wieder Fotos angeschaut. Und was mich wirklich glücklich macht, ist, wie oft er lächelte auf diesen Bildern. Das ist der Gesichtsausdruck, der von ihm in Erinnerung bleibt. Er war mit sich im Reinen und glücklich. Wir sollten nicht vergessen: Mein Vater hatte nicht neun Leben wie eine Katze. Sondern ungefähr neuntausend.

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