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Istha – Ein Dorf unter Schock

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Wer erschoss Walter Lübcke? Mitarbeiter und Nachbarn stehen unter Schock, sie können sich den Tod des ehemaligen Regierungspräsidenten von Kassel nicht erklären. Sie hoffen auf eine schnelle Aufklärung.

Seit Samstagnacht ist in Istha nichts mehr wie zuvor. Jeder hier wusste, wer Walter Lübcke war. Die Menschen in dem 900-Seelen-Dorf kannten seinen Namen, lange bevor er erschossen wurde. Als Regierungspräsident war er einer der mächtigsten Politiker der Region. Mit Hochdruck versucht die Polizei zu rekonstruieren, was in dieser Samstagnacht geschehen ist. Noch hat sie nicht bekannt gegeben, ob es eine Spur gibt. Es werde in alle Richtungen ermittelt. Was sicher ist: Der 65-jährige Walter Lübcke wurde aus kurzer Distanz mit einem Kopfschuss getötet, die Waffe bislang nicht gefunden. Ein Familienmitglied fand ihn gegen Mitternacht im Garten. Zwei Stunden später wurde er in einem Krankenhaus für tot erklärt. Die Polizei hat darum gebeten, nicht über mögliche Motive und Verdächtige zu spekulieren.

An der Stelle, an der die Asphaltstraße zu einem unbefestigten Schotterweg wird, steht ein Polizeiwagen. Ein Kindergarten liegt gegenüber von Lübckes Haus. Ein Absperrband riegelt Haus und Spielplatz ab. Nebenan grasen zwei Pferde auf einer Weide. Hinter dem Absperrband stehen zwei Polizisten. Sie reden miteinander. Es ist ihre Aufgabe, das Haus zu bewachen. Insgesamt sollen 20 Ermittler an dem Fall arbeiten.

Walter Lübckes Familie durfte am Dienstag noch nicht in ihr Haus zurückkehren

Nachbarn unter Schock

An der Straße unweit von Lübckes Haus stehen drei Nachbarn zusammen – ein Mann und zwei Frauen. Ihre Namen wollen sie nicht nennen. Der Vorfall hat sie verstört. “Berlin-Neukölln willkommen”, sagt der männliche Anwohner in Anspielung auf das Stadtviertel in Berlin, das für viele der Inbegriff von Kriminalität ist.

Die Nachbarn versuchen sich vorzustellen, was genau in Lübckes Haus am Samstag geschehen ist. Am Wochenende war Jahrmarkt in Istha – die Zelte und Buden der Schausteller reichten beinahe bis an die Grundstücksgrenze von Lübckes Haus heran. Vermutlich war es zu laut, um Schüsse hören zu können, sagen sie. Der männliche Anwohner vermutet, dass er ziemlich genau zu der Zeit, zu der der Mord stattgefunden haben muss, auf seinem Heimweg an dem Haus vorbei gelaufen ist. “Was hättest du gemacht, wenn der Mörder rausgekommen wäre?”, fragt die Frau. Er hätte ihn “laufen lassen”, sagt der Nachbar. Das wäre das einzig Vernünftige, eingreifen viel zu gefährlich.

“Hast du die Hasstiraden im Internet gelesen?”, fragt eine der Frauen. Verschiedene Medien hatten berichtet, dass Lübcke während der Flüchtlingskrise 2015 Morddrohungen erhalten habe. Die Region hatte, wie viele in Deutschland zu der Zeit, Flüchtlinge aus Syrien und anderen Teilen der Welt aufgenommen. Lübcke war als Regierungspräsident auch für die Einrichtung von Erstaufnahmelagern zuständig. Auf einer Gemeinderatssitzung im Oktober 2015 wurde er dafür heftig angefeindet. Lübcke entgegnete, es lohne sich, in Deutschland zu leben und für die hiesigen Werte einzutreten. “Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen, wenn er nicht einverstanden ist”. Die Sitzung musste unterbrochen werden. Lübcke hatte in der Folgezeit mehrfach anonyme Morddrohungen erhalten. Bislang gibt es jedoch keine konkreten Hinweise darauf, dass der Täter auch tatsächlich aus diesem Personenkreis stammt. Es bleibt den Nachbarn nichts anderes übrig, als zu spekulieren.

Blumen und Kerzen vor dem Büro Lübckes

Trauer und Verunsicherung

Auch die Mitarbeiter des Regierungspräsidiums in Kassel stehen unter Schock. Vor dem Regionalbüro sind Kerzen und Blumen niedergelegt. Ein Kondolenzbuch liegt auf einem Tisch, ein Schwarzweiß-Foto zeigt Walter Lübcke. Am Montag wurde eine Schweigeminute abgehalten, damit die städtischen Mitarbeiter gemeinsam trauern konnten. Hier, eine halbe Autostunde von Istha entfernt, hatte Lübcke gearbeitet. Als Leiter des Regierungspräsidiums hatte er die Verantwortung für 1300 Mitarbeiter, vom Finanzamt bis zur Ausländerbehörde, erklärt Pressesprecher Michael Conrad. Er lehnt jede Spekulation darüber ab, was seinem ehemaligen Vorgesetzten zugestoßen sein könnte. “Wir möchten keine Grundlage für Gerüchte geben”, sagt er. Die Morddrohungen lägen Jahre zurück.

“War Herr Lübcke denn beliebt?”, frage ich.

“Sehr”, sagt er.

“War er ein guter Chef?”

“Sehr.”

“Gibt es etwas bestimmtes, das Ihnen fehlen wird?”

“Alles.” 

Auch Lübckes Nachbarn erzählen, dass die Stimmung in Istha seit Lübckes Tod sehr gedrückt ist. Überall im Dorf treffen sich Nachbarn auf der Straße und versuchen zu verstehen, was mit Walter Lübcke passiert ist. Eine Frau sagt, der Vorfall habe sie dazu bewegt, von nun an immer ihre Haustür abzuschließen. Das habe sie zuvor nie getan. Doch seit Samstagnacht ist in Istha nichts mehr wie zuvor.

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