Politik

Das große Abrechnungs-Interview mit der SPD

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Er war SPD-Chef und Vizekanzler. Jetzt ist Sigmar Gabriel einfacher Bundestagsabgeordneter. Ohne Dienstwagen, ohne Mitarbeiterstab eines Ministeriums. Als wir ihn zum Interview im ICE treffen, reist er allein. Er fährt nach Mannheim, dort trifft er den SPD-Vordenker Erhard Eppler (92). Danach geht es weiter nach Brüssel zu Frans Timmermans (58), Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten. Auch ohne Amt zieht Gabriel weiter Strippen.

BILD am SONNTAG: Herr Gabriel, Sie stehen nicht mehr in der ersten Reihe …

Das stimmt. Und es stimmt auch, dass ich ja nicht freiwillig gegangen war. Aber irgendwann war der Ärger weg und stattdessen kam die Neugierde auf das neue Leben. Ich halte nichts davon, zu lange zurückzuschauen. Und es ist sehr entspannend, nicht ständig in der Öffentlichkeit zu sein, sich nicht um jedes Thema kümmern zu müssen und vor allem nicht in jeden innerparteilichen Konflikt verwickelt zu werden. Das macht den Kopf und die Sprache freier.

Sie vermissen nichts?

Natürlich juckt es mich gelegentlich in den Fingern. Manchmal fällt es mir schwer, Nachrichten anzuschauen. Nicht nur, weil mir der Zustand meiner Partei wehtut, sondern auch, weil unser Land seine Chancen nicht nutzt. Wir bereiten uns nicht vor auf eine immer unsicherer werdende Welt. Deutschland wird leider unter seinen Möglichkeiten regiert. Die Zeiten werden aber schwieriger: Ein zehnjähriger Wirtschaftsaufschwung geht zu Ende. Die großen Handelskonflikte treffen eine Exportnation wie Deutschland als Erstes. Wir müssen mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit rechnen. Und die Welt um uns herum wird gefährlicher. Da braut sich ein perfekter Sturm zusammen. Die Windstille, die in Deutschland herrscht, ist trügerisch. Im Auge des Orkans ist es immer windstill.

Hält die Koalition?

Das kann gerade keiner voraussagen.

Sie haben Ihrer Partei geraten, wegen der Kandidatur von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin die Koalition aufzukündigen. Halten Sie daran fest?

Ich habe meiner Partei geraten, nicht einfach zu akzeptieren, dass im Hinterzimmer ein Deal zwischen Herrn Macron und Herrn Orbán ausgehandelt wird, der die Europawahl der Lächerlichkeit preisgibt. Um das mal klar zu sagen: Ich habe überhaupt kein Problem mit Ursula von der Leyen. Sie kann eine gute Kommissionspräsidentin werden, das steht völlig außer Frage. Das ändert aber nichts daran, dass sie gar nicht für das Europäische Parlament kandidiert hatte, geschweige denn eine Spitzenkandidatin war. Alle Parteifamilien hatten aber versprochen, dass das Europäische Parlament aus der Reihe seiner Spitzenkandidaten die Europäische Union führt. Das war vor fünf Jahren eine wirkliche Demokratisierung Europas. Und genau das ist jetzt in einem Handstreich zu Grabe getragen worden. Ich fand das wirklich ein Bubenstück, das da aufgeführt wurde. Ausländische Staats- und Regierungschefs wie Macron und Viktor Orbán haben de facto darüber entschieden, wer aus Deutschland in die EU-Kommission kommt. Das ist aber eine deutsche Entscheidung. Die gehört ins Bundeskabinett und nicht ins Hinterzimmer.

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Seit drei Wochen ist Gabriel Vorsitzender der Atlantikbrücke, eines Vereins, der sich um die deutsch-amerikanische Freundschaft kümmert.

Das Verhältnis Deutschland–USA ist auf einem Tiefpunkt. Wer hat Schuld?

Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass Donald Trump die Ursache unserer Schwierigkeiten ist. Er ist nur ein besonders drastischer Ausdruck der Veränderungen. Wir in Europa – und vor allem wir in Deutschland – haben lange übersehen, dass sich die wirtschaftlichen und politischen Machtachsen vom Atlantik in den Pazifik verlagern und sich damit auch das Verhältnis Amerikas zu uns ändert.

Amerika wird nicht so bleiben wie unter Donald Trump. Aber es wird nie wieder so werden, wie es einmal war. Obama war der erste US-Präsident, der Amerika als „pazifische Nation“ und nicht mehr als transatlantische Nation bezeichnet hat. Der heutige US-Präsident ist nur Symptom, aber nicht die Ursache. Und Trump hin oder her: Meine Generation sollte noch wissen, dass wir den Vereinigten Staaten unsere Freiheit zu verdanken haben. Die Grabkreuze für die US-Marines in der Normandie sind stumme Zeugen dafür, dass hier Amerikaner dafür gestorben sind, dass wir heute weder unter den Nachfolgern Hitlers noch Stalins leben müssen.

Die USA wünschen sich von Deutschland mehr militärisches Engagement in Syrien und im Irak. Der Bundeswehreinsatz läuft aber auf Druck der SPD Ende Oktober aus. Richtige Entscheidung?

Aufgrund der instabilen Lage in Syrien rate ich dringend davon ab, den Einsatz jetzt Hals über Kopf zu beenden. Die ständigen Rückzugsankündigungen der USA, die ja unter Obama begonnen hatten, haben doch in Syrien nur dazu geführt, dass andere Mächte in das politische Vakuum eingedrungen und den Krieg schlimmer gemacht haben. Insbesondere Russland und der Iran. Dadurch wird die Lage für die Menschen in der Region nicht besser. Dass unsere Verbündeten von uns ein größeres Engagement erwarten, muss man auch verstehen.

Man darf ihnen aber auch entgegenhalten, dass Deutschland bei den Folgen des Syrienkrieges die weitaus größte Last trägt: bei der Flüchtlingsaufnahme. Zudem muss man eine klare Grenze für unser Engagement bei der Frage nach Bodentruppen und Kampfhandlungen ziehen: Wir wollen nicht nachträglich – auch nicht schleichend – in die Spätfolgen des völkerrechtswidrigen Irakkrieges verwickelt werden. Dazu haben wir damals als Sozialdemokraten aus guten Gründen Nein gesagt. Anders als die heutige CDU-Kanzlerin. Dieser Krieg im Irak hat aber die Entstehung der Terrororganisation Islamischer Staat ganz besonders gefördert.

Im Juni trat Andrea Nahles (49) als Partei- und Fraktionschefin zurück, hörte komplett mit der Politik auf. Das Verhältnis Gabriel–Nahles ist berühmt-berüchtigt. Als er Parteivorsitzender und sie seine Generalsekretärin war (2009 bis 2013), quälten sie sich gegenseitig. Als Nahles dann an der SPD-Spitze stand, nahm sie Gabriel das Amt des Außenministers weg. Er revanchierte sich mit Sticheleien und öffentlichen Ratschlägen. Nach dem katastrophalen Europawahlergebnis (15,8 Prozent) forderte er: „Alles und alle gehören auf den Prüfstand.“ Alle in der SPD wussten, dass er damit vor allem Nahles gemeint hatte.

Tut Ihnen Andrea Nahles leid?

Wir waren politisch nun wahrlich nicht die besten Freunde. Aber es tut mir um jeden Menschen leid, der wie sie mit ungeheuer leidenschaftlichem Engagement in der Politik ist und dann an einen Punkt kommt, wo nur noch der Rücktritt bleibt. Politik hat auch etwas Erbarmungsloses. Aber sie hat diese sehr harte Seite der Politik auch immer selbst betrieben. Dazu könnte ich auch etwas sagen.

Auf Nachfrage will Gabriel aber nichts Böses mehr über sie sagen. Seit ihrem Rücktritt sucht die SPD neue Chefs. Doch bislang hat kein Spitzenpolitiker seine Kandidatur erklärt. Vizekanzler Olaf Scholz (61), die Ministerpräsidentinnen Manuela Schwesig (45) und Malu Dreyer (58), Arbeitsminister Hubertus Heil (46) wollen es nicht machen.

Können Sie verstehen, dass keiner aus der ersten Reihe SPD-Chef werden will?

Nein.

Sie haben selbst erzählt, dass Sie jahrelang mit Bauchweh nach Berlin gefahren sind.

Das stimmt. Das ändert aber nichts daran, dass der Vorsitz der SPD das stolzeste Amt ist, das demokratische Parteien in Deutschland zu vergeben haben. Für mich war es das wichtigste und schönste Amt in meinem politischen Leben. Fast 160 Jahre lang steht diese Partei für Freiheit und Demokratie ein. Nichts von dem, was wir heute in unserem Land genießen, ist ohne die Mitwirkung und ohne die Tatkraft der Sozialdemokraten denkbar gewesen. Das alles drückt der Vorsitz dieser großartigen Partei aus.

Und doch will ihn scheinbar niemand übernehmen …

Na, einige Vorschläge gibt es ja schon und andere werden kommen. Aber es stimmt: Ich sehe das mit großer Verzweiflung und auch wachsendem Zorn, wie der Vorsitz der SPD fast schon wie ein infektiöses Kleidungsstück behandelt wird, das sich niemand ins Haus holen will. Scheinbar denken viele immer nur über die Frage nach, ob ihnen der SPD-Vorsitz nutzt oder schadet. Was die SPD braucht, ist aber ein oder von mir aus auch zwei Vorsitzende, die die SPD um ihrer selbst willen führen wollen. Die für nichts anderes brennen als dafür, die SPD nach 160 Jahren nicht verschwinden zu lassen. Denn es geht gerade um die Existenz meiner Partei.

Warum ist dieser Job denn so schwierig?

Die SPD kleistert die inneren Konflikte von Migrationspolitik über innere Sicherheit bis zu Arbeit und Umwelt mit Formelkompromissen zu. Wir streiten uns um Halbsätze, damit sich auch wirklich jeder in all den Papieren wiederfinden kann. Aber im richtigen Leben, wenn regiert werden muss, brechen diese Konflikte auf. Dann geht es auf einmal nicht mehr ums Regieren, sondern ums innerparteiliche Rechthaben. Und in diesem Mühlstrom wird das Führungspersonal der SPD regelmäßig zermahlen.

Ich habe zwei Jahre mit meiner Partei einen unfassbaren Streit gehabt, ob man mit Kanada ein Freihandelsabkommen schließen darf. Mit Kanada! Einem Land, das europäischer ist als manches EU-Mitglied. Die kanadische Außenhandelsministerin musste einfliegen, um einen SPD-Parteitag mit knapper Mehrheit zu überzeugen. Heute fassen sich alle an den Kopf ob dieser rechthaberischen Debatte, die uns damals fast aus der Regierung katapultiert hätte.

  • Laut „Tagesspiegel“

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Und? Hat sich was geändert?

Es muss sich ändern. Wenn das nicht ein Ende hat, wird auch die nächste Führung zerschlissen. Meine große Sorge ist, dass diejenigen, die sich jetzt um das Amt des SPD-Vorsitzes bewerben, auf jeder Veranstaltung nur gefragt werden, ob sie für oder gegen die derzeitige Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition sind. Das ist auch wichtig. Aber ich vermute, es geht schon wieder ums Rechthaben. Dass die, die schon immer dagegen waren, jetzt recht bekommen wollen. Vielleicht haben sie sogar recht. Aber wenn das die einzige Frage ist, die geklärt wird, dauert es nicht lange, bis auch die neue Führung aufgerieben wird. Was wir jetzt brauchen, ist eine Gruppe von mutigen und engagierten Leuten, die sagt: Das ist unser Programm! So lauten unsere Antworten auf die ungelösten Fragen der SPD! Und wer uns wählt, der weiß, was wir danach machen. Die neue SPD-Parteiführung braucht ein inhaltliches Mandat und nicht nur eine Mehrheit in einem Beauty-Contest.

Aktuell ist die SPD in der Todeszone.

Sie ist zumindest existenzgefährdet, wenn man unter Existenz versteht, dass sie eine bestimmende politische Kraft ist. Ich erhoffe mir sehr, dass Menschen, die ihre gesamte Karriere nur der SPD verdanken, unserer Partei jetzt auch was zurückgeben. Ich habe in meiner Zeit als Vorsitzender zweimal auf eine Kanzlerkandidatur verzichtet, weil ich den Eindruck hatte, meine Partei hätte mit anderen Kandidaten bessere Chancen. Und ich bin sogar mal vom SPD-Parteivorsitz zurückgetreten, weil ich dachte, die SPD brauche einen neuen Hoffnungsträger. Man muss die SPD um ihrer selbst willen führen wollen und nicht um der eigenen Karrierewünsche. Sie ist es wert.

In der heutigen SPD-Führung sind viele auf den Ex-Chef und seinen oft ruppigen Führungsstil sauer. Bei der letzten Bundestagswahl vergab er die Kanzlerkandidatur im Alleingang an Martin Schulz, sicherte sich selbst das Amt des Außenministers. Bei der nächsten Bundestagswahl tritt Gabriel nicht mehr an. Bis Ende des Sommers will er entscheiden, ob er sein Bundestagsmandat schon im Herbst zurückgibt.

Sie werden im September 60. Was bedeutet der Geburtstag für Sie?

Neulich bin ich auf den Wegen meiner Kindheit Fahrrad gefahren. Da habe ich gedacht: Die Wahrscheinlichkeit, dass du hier auch noch in 20 Jahren fährst, ist sehr gering. Ich befasste mich zum ersten Mal intensiver mit der Endlichkeit des Lebens. Man muss mit der verbleibenden Zeit sorgfältiger umgehen als mit der vergangenen.

Was wollen Sie im Leben noch erreichen?

Meinen Töchtern was von der Welt zeigen. Und es gibt Dinge, die auch ein Außenminister noch nicht gesehen hat.

Was denn?

Ich war noch nie in Australien. Obwohl ich dort einen Cousin habe. Der hatte seinem Vater in die Kasse gegriffen und ist an den am weitesten entfernten Ort abgehauen.

Seit drei Wochen sind Sie Vorsitzender der Atlantikbrück. Ihr Vorgänger Friedrich Merz tauchte plötzlich wieder in der Politik auf. Ist eine solche Rückkehr bei Ihnen ausgeschlossen?

Ach, wie hat die Kanzlerin gesagt? Das ist nicht in meiner Planung.

Das lässt aber eine Planänderung offen. Und dafür sind Sie berühmt …

(Lacht) Never say never again. Sag niemals nie. Das muss ich schon sagen, damit in der SPD die „Richtigen“ nicht zu gut schlafen. (Lacht) Aber im Ernst: Ich sehe kein Amt, auf das ich zusteuere.

Angela Merkel wird nächste Woche 65. Gratulieren Sie ihr?

Aber sicher. Das gehört sich nicht nur, sondern ich tue das sehr gerne, weil ich sie sehr schätze.

Was wünschen Sie ihr?

Dass sie gesund bleibt. Dass sie ihren Humor behält. Dass sie trotz aller harten Erfahrungen so menschlich bleibt, wie ich sie auch kennenlernen durfte. Und ich wünsche uns Deutschen, dass sie unserem Land, in welcher Rolle auch immer, in schwierigen Zeiten weiter zur Seite steht.

Drei Töchter, dreimal Minister und acht Jahre SPD-Chef

Sigmar Gabriel wird am 12. September 60. Er ist in Goslar geboren und wohnt dort immer noch. Mit Ehefrau Anke, einer Zahnärztin, und den beiden Töchtern (2 und 7). Aus einer früheren Beziehung hat er eine erwachsene Tochter (30).

Herkunft: Sein Vater († 91, Beamter) blieb bis zum Tod Nazi. Seine Mutter († 92, Krankenschwester) trennte sich, als Gabriel drei war, zog ihn nach langem Sorgerechtsstreit allein groß.

Karriere: Der Ex-Lehrer ist von 1999 bis 2003 Ministerpräsident von Niedersachsen. Dann Wechsel in die Bundespolitik: Umweltminister (2005–2009), SPD-Chef (2009–2017), Wirtschaftsminister (2013–2017), Außenminister (2017–2018).

Nach der Bundestagswahl nimmt ihm die neue SPD-Chefin Nahles das Ministeramt weg.

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